"Dass du dich wehren musst, wenn du nicht untergehen willst, wirst du doch einsehen."

[ Bertolt Brecht ]

11. März 2012, Lüneburg, Deutschland

Michi Kitazawa-Engel's Rede auf der Anti-Atom Demonstration in Lüneburg

Teil 1 (Erdbeben, Tsunami)

Das starke Erdbeben und die zwei folgenden Tsumani-Wellen in Nordosten Japans vor genau einem Jahr haben das Leben von ca. 20.000 Menschen gefordert. Neuesten Informationen nach soll der Tsunami an der hoechsten Stelle 38.9 Meter hoch gewesen sein. Als Folge von Tsunami und nachfolgender Atomkatastrophe im AKW Fukushima-Daiichi`s mussten bisher mehr als 340.000 Menschen ihren Wohnort verlassen.

Es passierte an einem Freitag nachmittag. Da Schul- und Kindergartenkinder in Japan normalerweise auch freitags bis frühnachmittags in der Schule oder im Kindergarten bleiben, war es genau die Zeit, wo viele Kinder unterwegs nach Hause waren.

Obwohl viele Flüchtlinge den Traum einer Rückkehr nach Hause nicht aufgeben, weiß keiner genau, wann sie zurückkehren können, sogar ob sie überhaupt jemals zurückkehren können. Auch in den Präfekturen Miyagi und Iwate, nördlich von Fukushima, ist Radioaktivität niedergegangen. Außerdem hören die Nachbeben im nordöstlichen Teil des Landes immer noch nicht auf. “Ich möchte nur noch einmal umziehen” – diese Notiz hinterlassend nahm sich vor kurzem eine ältere Frau das Leben in ihrer dritten Notunterkunft.

Rede

Wenn aber an diesem Tag dort nur eine Naturkatastrophe geschehen wäre, und nicht zusätzlich die AKWs explodiert wären, hätten mehr Menschen gerettet werden können. Nicht nur die Landwege vom Süden nach Norden, sondern auch die Luftwege wurden durch die Explosion des AKW Fukushima-Daiichi`s behindert. Auch haben sich LKW-Fahrer, die zum Katastrophengebiet z.B. Rettungsgerät bringen sollten, aus Angst vor Radioaktivität verständlicherweise geweigert, dorthinzufahren.

Wenn an dem Tag dort nur eine Naturkatastrophe geschehen wäre, könnten die Japaner auch viel hoffnungsvoller an die Wiederaufbauarbeit gehen, so wie sie auch vor dem 11.3. 2011 zahlreiche Erdbeben und Tsunamis überstanden haben, und trotz ihrer tiefen Trauer doch jedes Mal ihr Land besser als vorher wiederaufgebaut haben.

Wirklich tragisch, dass dieses Mal alles anders ist…


1000 Kraniche

Teil 2 (Historischer Hintergrund zur AKW-Katastrophe Fukushima)

Während Sadako noch im Krankenhaus tausend Kraniche zu falten versuchte, begann man unter US-Präsident Eisenhower damit, Atomstrom in demselben Reaktor zu erzeugen, in dem 10 Jahre vorher die in Nagasaki abgeworfene Plutoniumbombe entwickelt worden war. Außerdem wollten die Amerikaner ihre Atomtechnik in andere Industrieländer exportieren. Da die Japaner gegen diese Energieart verständlicherweise sehr zurückhaltend waren, führten die USA in mehreren großen Städten Japans, darunter auch Hiroshima, Ausstellungen unter dem Motto: “Friedenskampagne der Atomenergie” durch, um die Bürger von der Atomenergie zu überzeugen.

Es gab wohl nirgendein Land in der Menschheitsgeschichte, das am Ende des zweiten Weltkrieges so schlimm zerstört war wie Japan. In Tokio blieben nur ein paar Gebäude aus Beton stehen. Hiroshima und Nagasaki waren in einem Augenblick fast komplett geschmolzen. Alleine durch die zwei Atombomben starben über 200.000 Menschen innerhalb des selben Jahres. Deshalb wollte Japan möglichst bald das Land wieder aufbauen und industrisieren. Dafür wurde Energie gebraucht.

Es verursacht oft Komplikationen, dass wir unter einer “friedliche Gesellschaft” nicht nur eine Gesellschaft “ohne Krieg”, “ohne Bombardements” verstehen, sondern oft gleichzeitig eine Gesellschaft grenzenlosen Wohlstandes. Genau in diesen Zwiespalt ist Japan gefallen.

Es gibt angeblich kein Land, das nach dem zweiten Weltkrieg ohne Atomkraft eine starke wirtschaftliche Entwicklung geschafft hat. Es war eine politische Entscheidung, dass die Japaner die Atomenergie erneut ins Land ließen. - Doch noch etwas spielte wohl dabei eine Rolle, nämlich dass Japan kurz davor seine neue “Friedensverfassung” erhalten hatte, die ewigen Verzicht auf Krieg, Armee und Waffenbesitz beinhaltet. “Dann kann es nie passieren, dass sich unsere Atomenergie gegen Andere richtet”, glaubten die Japaner damals fest.

Als die USA ihre sogenannte “Friedenskampagne der Atomenergie” in ganz Japan durchführten, träumten nicht wenige japanische Jungen, die technisch interessiert waren und deshalb solche Werbveranstaltungen besuchten: “Diese Energie wird die ganze Menschheit glücklich machen, wenn wir ihre riesige Kraft durch unsere Vernunft beherrschen!” Sie waren teilweise selber verstrahlt. Doch sie waren jene Kinder, die während und nach dem Kriege immer hungern mussten und keine vernünftige Wohnung hatten. Außerdem wussten die meisten Japaner über die Spätfolgen der Strahlung gar nichts: Alle Patienten-Daten von Opfern der Atombomben wurden geheim gehalten. Kein Arzt, keine Krankenschwester und kein Familienangehöriger durfte berichten, was er Schreckliches im Krankenhaus gesehen hatte.

So gewann die Liberal-Demokratische Partei, die von 1955 bis kurz vor der Atomkatastrophe im AKW Fukushima fast ununterbrochen das Land regierte, junge Atomtechniker, und beeilte sich, auch mittels der Medien, die Atomenergie im ganzen Land zu verbreiten: Das Wort “Nuklear” wurde für die Bombe und für die Energie ganz anders übersetzt, als ob es zwei verschiedene Dinge wären. Anfang der 60er Jahre gab es sogar eine Kindersendung namens “Atom mit den Eisenarmen” (übersetzt in verschiedene Fremdsprachen unter dem Titel “Astro Boy”), deren hübsche Hauptfingur namens “Atom” für die Gerechtigkeit kämpft. Sein süßes Schwesterchen hieß “Uran”.

Ein LDP-Politiker, der ehemalige Korvettenkapitän Yasuhiro Nakasone, der später Prämierminister wurde, trieb die jungen Atomtechniker an: “Wenn ihr zu langsam seid, werde ich euch mit Geldscheinen ohrfeigen!” So entstand 1966 der erste Reaktor in Tokai-mura, 1971 die ersten Reaktoren in Fukushima. Die Ölkrise 1973 beschleunigte den Bau neuer AKWs. Wenn in irgendeiner Präfektur die Wirtschaft stagnierte, wurde ihr gleich von Staat und Netzbetreiber empfohlen, als stabile Geld-Quelle ein neues AKW bauen zu lassen. Lange Arbeitszeiten und hohe Arbeits-Norm führten zwar zu steigenden Löhnen und Gehältern, doch die Bürger verloren ihre Freizeit, in der sie das System infrage stellen und Widerstand hätten leisten können. Sie wurden durch Wohlstand korrumpiert. Ich erinnere mich trotzdem, dass der Widerstand gegen den Schiffs-Transport alter Brennelemente aus Cella-field und La Hague nach Aomori, der nördlichsten Präfektur der Hauptinsel, in den 70er Jahren noch im Fernsehen zu sehen war. Wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, verschwanden Anfang der 80er Jahre, als Nakasone dann Premierminister war, solche Meldungen komplett aus den Medien. Nach der Atomkatastrophe in Tschernobyl tauchte die Atomkraft zwar wieder in den Medien auf, es herrschte aber die Meinung vor: “Selbst wenn Atomkraft ein großes Risiko darstellten sollte, können wir auf keinen Fall sofort aussteigen, denn wir brauchen ja den Strom” ? Das war jedoch ein Vorwand, ungehindert weitere Reaktoren bauen zu können, denn damals standen noch 37 Reaktoren, aber heute 54 im ganzen Land. Obwohl kurz nach der Katastrophe in Tschernobyl besonders im Nordwesten des Landes erhöhte Werte von Cäsium137 gemessen worden waren, erfuhren die meisten Japaner davon nichts. In den 90er Jahren wurde jeder, der die Atomenergie infrage stellte, mit der Frage bedroht: “Wie willst du dann ohne Strom leben?” Erst nach Fukushima habe ich erfahren, dass das Bildungsministerium im Zeitraum Ende 80er bis Anfang 90er Jahre die Anti-Atom-Bewegung ausspioniert hatte! In jeder Zeitung stand: “Die Atomkraft ist sicher!” Ab dieser Zeit wurden Demonstrationen aller Art von den Medien ignoriert, und die Menschen fragten sich irgendwann nicht mehr, woher ihr Strom kommt und merkten nicht, dass ihre Freiheit, Widerstand zu leisten, eingeschränkt wurde.

Sanddorn

Liebe Leute, wir Japaner haben nach dem zweiten Weltkrieg kein Land mehr militärisch angegriffen und bisher nirgendein Land durch eine Atomwaffe bedroht. Doch wir haben unter dem Schutzmantel unserer Friedensverfassung das wahre Gesicht der Atomkraft übersehen. Nicht durch einen Angriff von außen, sondern von der Atomkraft im eigenen Land sind unsere Kinder jetzt bedroht. Wir haben unseren Kindern eine untragbar große Last aufgebürdet. Außerdem steht die Volksabstimmung vor der Tür, die unsere “Friedensverfassung” ändern soll, wodurch wir eigene Waffen produzieren und andere Länder angreifen könnten. Es gibt sogar Gerüchte, dass der 4. Reaktor des AKW Fukushima-Daiichi dazu genutzt wurde, Plutonium zu extrahieren, was auf eine Atomwaffenentwicklung hindeuten würde.

Ihr Deutschen, ihr habt aus eurer bitteren Vergangenheit im zweiten Weltkrieg bestimmt besser gelernt als wir Japaner, so dass ihr noch rechtzeitig Widerstand leisten könnt. Bleibt weiter wachsam! Glaubt nicht alles, was durch die großen Medien verbreitet wird! Hört auf eure innere Stimme, behaltet einen gesunden Zweifel! Strebt nicht nur nach materiellem Reichtum, vergesst nicht, dass es noch wichtigere Dinge gibt! Wiederholt nicht die gleichen Fehler wie wir Japaner! Selbst wenn wir Japaner die Versäumnisse der vergangenenen 60 Jahre jetzt nachholen, können wir ihre Folgen nicht wiedergutmachen. Wir, die erwachsenen Japaner, können bei unseren Kindern nur um Entschuldigung bitten. Wir waren unfähig, eine Gesellschaft aufzubauen, die wir stolz unseren Kindern weitergeben können.

Deshalb möchte ich euch Deutsche bitten, euch an die tausend Kraniche des verstrahlten Mädchens Sadako zu erinnern. Ich überlasse es euch, darüber nachzudenken, wie eine wirklich friedliche Gesellschaft in Zukunft aussehen soll.

Ihr könnt sie noch erschaffen!

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